Neurodivergenz
12.11.2022 14:18

Was ist Neurodivergenz und wie gehen wir damit um?

Seit Menschen die Erde bevölkern, sich fortpflanzen und ihren Nachwuchs großziehen, leben sie in Gemeinschaft mit anderen Menschen. Ob man es nun Sippe, Clan, Dorf, Stadt, Land, EU oder anders nennt – es gibt sie schon immer, die Solidargemeinschaft im eigentlichen Sinn.

Menschen brauchen Wasser und Nahrung sowie Behausung und Kleidung, um deren Beschaffung sie sich gemeinsam kümmern, ein jeder entsprechend seiner Fähigkeiten. Die Gemeinschaft braucht aber auch Beschützer, Späher, Spurenleser, Heilkundige; sie braucht Menschen, die Wissen bewahren, vermehren und weitergeben, innovativ, kreativ und gerecht sind, und sie brauchen einen, der die Gemeinschaft führt und für sie Entscheidungen trifft – Aufgaben, die besonderer Talente bedürfen und deshalb den Menschen übertragen werden, die aufgrund ihrer geistigen Fähigkeiten und körperlicher Eignung die jeweiligen Aufgaben erfüllen können.

So wie sich körperliche Merkmale an die ökologischen Bedingungen anpassen, entwickeln sich auch die geistigen Fähigkeiten, um Aufgaben in der Gemeinschaft und für die Gemeinschaft erbringen zu können. Neben den mehrheitlich neurotypischen Menschen, die sich um die alltäglichen Dinge des Lebens der Gemeinschaft kümmern, leben in dieser auch neurodivergente Menschen, die zum Beispiel kleinste Details sehen, ein weiteres Gesichtsfeld haben, höhere und niedrigere Frequenzen hören, leise Geräusche früher wahrnehmen, detaillierter riechen und schmecken, kleinste Unterschiede spüren und fühlen können, immense Mengen an Informationen speichern und abrufen, Muster erkennen, logisch und abstrakt denken, über Empathie, Gerechtigkeitssinn und Führungsqualitäten verfügen – und diese Aufzählung ist noch lange nicht vollständig.

Wer mit solchen Fähigkeiten zum Wohl der Gemeinschaft beiträgt, bekommt dafür Wasser, Nahrung, Behausung, Kleidung und was sonst noch gebraucht wird von der Gemeinschaft, ohne sich selbst darum kümmern zu müssen. Denn obwohl er andere Aufgaben für sie wahrnimmt, ist er doch Teil der Gemeinschaft. Es ist ein Geben und Nehmen. Und so, wie die anderen nicht selbst für ihre besonderen Belange sorgen müssen, so muss auch er nicht nur selbst für seine alltäglichen Belange sorgen.

Menschen sind neurodivers. Die neurodivergenten Menschen gleichen sich nicht in dem Maße, wie sich die neurotypischen gleichen. Ihre Fähigkeiten sind unterschiedlich verteilt – manche Menschen haben eine oder zwei, die anderen mehrere oder gar viele. Einige sehen Geräusche in Farben oder hören Gerüche, viele sind ausgesprochen intelligent, wieder andere sind so empathisch, dass sie die Gefühle anderer Menschen nicht nur wahrnehmen, sondern diese selbst empfinden. Sie interessieren sich für gar alles oder haben Spezialinteressen, fokussieren ihre Aufmerksamkeit auf diese eine Aufgabe oder lassen sie schweifen, um alles zu erfassen. Manche haben ein eidetisches Gedächtnis, ihre Erinnerung geht weiter zurück als zum dritten Geburtstag und sie können nichts Gewesenes vergessen – seien dies nun schöne oder weniger schöne Erinnerungen.

Ihre unterschiedlichen Aufgaben und Fähigkeiten setzen andere Maßstäbe für ihre körperliche Arbeitshaltung, aber auch für Bequemlichkeit und Entspannung. Ihre Körper haben sich angepasst, auch ihre Augen und Ohren. Manche können ihre Gelenke überstrecken; manche können in Positionen verharren, die neurotypische Menschen nicht oder nur unter körperlicher Anstrengung einnehmen können. Manche können nicht an einer Stelle bleiben, sie sind ständig in Bewegung.

Diese besonderen Fähigkeiten gehen natürlich auf Kosten anderer Fertigkeiten, die man im täglichen Leben braucht oder die andere einfach besser können.

Die neurodivergenten Menschen haben auch Gemeinsamkeiten. Ihre Instinkte, ihre Sinne sind geschärft, sie nehmen alle Reize viel intensiver wahr, ihr Gehirn verarbeitet Reize anders. Mit ihrer Fähigkeit, derart viele und vielfältige Reize verarbeiten, interpretieren und koordinieren zu können, haben sie in vergangenen Zeiten das Überleben ihrer Gemeinschaft und somit der Menschheit gewährleistet – in Gemeinschaften, die isoliert weitab jeglicher Zivilisation leben, tun sie das auch heute noch.

Menschen haben gelernt, das Feuer zu beherrschen; sie haben das Rad, die Runen, das dezimale und das binäre Zahlensystem und vieles andere mehr erfunden, unter anderem Kontinente, Röntgenstrahlen und die DNS entdeckt. Ihr Aktionsradius hat sich vergrößert – zu Wasser, zu Lande und in der Luft. Das Leben der Menschen hat sich stetig verändert – erst langsam und über Jahrhunderte hinweg, dann immer schneller und schneller und heute hat man den Eindruck, in jedem neuen Quartal begänne eine neue Ära.

Dies hat zur Folge, dass es auch mehr und immer mehr Reize gibt. Neurotypische Menschen haben die Fähigkeit, überflüssige Reize auszublenden. Neurodivergenten Menschen ist dies nicht möglich. Sie sind dafür geschaffen, Reize verstärkt wahrzunehmen – auch dann, wenn sie im Übermaß auf sie einstürzen. Wie sie mit dieser Intensivität von Reizen umgehen, ist sehr unterschiedlich. Wenn möglich, wenden sie den Blick ab. Manche überlagern das Zuviel an Reizen mit einem selbst generierten Reiz, manche versuchen Reize durch manuelle Stimulation auszublenden oder durch eine immer gleiche Bewegung. Manche brauchen die ungeteilte Aufmerksamkeit ihrer Mitmenschen, um ihre Furcht vor dieser Vielzahl von Sinneseindrücken zu überwinden; manche können keine anderen Menschen um sich herum ertragen, weil von diesen immer weitere Reize ausgehen.

Dieses mitunter seltsam anmutende Verhalten wiederum irritiert heute neurotypische Menschen. Sie finden es seltsam, eigenartig, störend, nervig, abnormal, asozial oder gar böse; sie grenzen sie aus, versagen ihnen Teilhabe und Bildung und nicht selten bestrafen sie neurodivergente Menschen für ihr Verhalten – welches jedoch nichts anderes ist als ihr Versuch, diese immens vielen Reize um sie herum irgendwie zu bewältigen.

Die Aufgaben der neurodivergenten Menschen veränderten sich im Laufe der Zeit. Sie wurden weniger und die verbliebenen wurden zusehends auch von neurotypischen Menschen übernommen. Dies wiederum wurde möglich, weil es immer mehr Werkzeuge, Geräte und Hilfsmittel gab, an deren Entwicklung und Entstehung die neurodivergenten Menschen nicht ganz unbeteiligt waren.

Etliche wandten sich der Kunst zu; sie wurden Narren, Gaukler, Jongleure, Barden, Troubadoure, Musikanten, Dichter, Bildhauer, Maler, Zeichner, Gestalter, Komponisten, Sänger, Musiker, Schriftsteller, Schauspieler, Akrobaten, Kabarettisten – eine Aufzählung, die sich noch fortsetzen lässt.

Den künstlerisch weniger Begabten blieb nichts anderes übrig, als sich an die neurotypischen Menschen anzupassen, so gut ihnen das eben möglich war. Manche fanden ihre Nische, viele andere nicht.

Über die Jahrtausende hinweg ging so manches schief. Menschen wollten sich über andere Menschen erheben, wollten sie sich untertan machen, über sie herrschen. Im Großen äußert sich das in Kriegen, im Kleinen unter anderem in der Anwendung der sozialen Gesetzgebung. Auch das übermäßige Streben nach Reichtum bringt der Menschheit an sich keinen Gewinn – im Gegenteil.

Die Welt, in der wir heute leben, kann einem Angst machen. Die Menschen haben einen enormen Verschleiß an Energie; sie beuten die Ressourcen der Erde aus, zerstören die Natur, führen einen Klimawandel herbei, produzieren immense Mengen an – auch radioaktivem – Abfall und haben immer noch nicht den Hauch einer Ahnung, wie sie diesen effektiv und nachhaltig entsorgen können.

Sie normieren Gewicht, Größe und Form von Obst und Gemüse und werfen weg, was nicht in die Norm passt. Andererseits halten sie Vieh unter erbärmlichen Bedingungen, beuten die Tiere aus, töten sie, um von ihnen zu leben und vernichten die, die sie nicht brauchen. Mindestens ein Drittel der Lebensmittel landet im Müll.

Man könnte auch kleinere Äpfel, Möhren auf zwei Beinen, krumme Gurken und Zwillings-Kiwis essen und nur so viel Vieh zu anständigen Bedingungen halten, wie man unbedingt braucht. Man tut es aber nicht.

Die Menschen verdienen ihren Lebensunterhalt immer weniger mit ihrer Hände Arbeit, sondern in zunehmendem Maße mit dem Gewinn beim Handel und indem sie denjenigen immer mehr wegnehmen, die ohnehin nicht allzu viel haben. Ein Facharbeiter kann von seinem Gehalt schon lange keine Familie mehr ernähren. Man hört immer häufiger das Wort Kinderarmut.

Eltern bringen ihre Kinder schon im Kleinkindalter zu Menschen, die bestimmt das Beste für sie wollen, dafür aber erbärmlich schlecht bezahlt werden – nur um irgendwo zu arbeiten und das Geld zu verdienen, mit dem sie außer Nahrung und Wohnung auch den Sprit zum Arbeitsplatz, verschiedene berufsbedingte Aufwendungen und die Kinderbetreuung finanzieren sowie den Urlaub, den sie zur Erholung von der Arbeit brauchen.

Man schaut herab auf Mütter, die nicht erwerbstätig sind, um ihre Kinder selbst großzuziehen – sei es, weil sie das unbedingt so wollen oder weil ihre Kinder nicht so pflegeleicht sind wie die Kinder anderer Eltern. Andere Menschen – vorzugsweise Kinderlose – erklären Eltern, wie sie ihre Kinder erziehen sollen und was sie dabei alles falsch machen – ohne jemals einen Blick auf die Bedürfnisse der jeweiligen Kinder zu werfen.

Den Wert einer Gesellschaft erkennt man daran, wie sie mit ihren schwächsten Mitgliedern umgeht. Neben den Alten, den Kindern und den Behinderten – ob man diese Behinderung sehen kann oder auch nicht – gehören auch diejenigen zu den Schwächsten, die nicht so sind wie die große Masse der neurotypischen Menschen. Die Selektion beginnt schon vor dem Kindergarten und hört im günstigen Fall beim Renteneintritt auf.

Menschen im neurodivergenten Spektrum müssen sich spätestens ab dem Schuleintritt anpassen, unterordnen und ihre Leistungen auf die gleiche Art und Weise erbringen wie ihre neurotypischen Klassenkameraden oder Arbeitskollegen. Selbst zu denken ist nicht unbedingt erwünscht. Ihre eigentlichen Fähigkeiten werden nicht beachtet. Weil sie ihre Umgebung intensiver wahrnehmen, müssen sie sich mitunter vor allzu viel Reizüberflutung schützen. Sie passen ihr Verhalten an ihre Bedürfnisse an und stoßen damit im günstigen Fall auf Unverständnis, im ungünstigen Fall auf Ausgrenzung oder gar Bestrafung.

Anstatt ihnen die Möglichkeit zu geben, sich in einer reizarmen Umgebung wieder runterzufahren, macht man ihren Vorwürfe, stellt sie zur Rede, fordert umgehende Antworten ein und zwingt sie zu Blickkontakt. Man könnte sie auch einfach mal in Ruhe lassen. Man tut es aber nicht.

Die mangelnde Fähigkeit, sich in allen Lebensbereichen gleich zu verhalten wie neurotypische Menschen, macht in viel zu vielen Fällen bereits Kinder zu Behinderten. Das ist ihre einzige Chance, wenigstens ein kleines bisschen Hilfe zu erhalten – Hilfe, um die Erwartungen der neurotypischen Menschen um sie herum erfüllen zu können. Doch die Teilhabe am sozialen Leben wird ihnen viel zu oft verwehrt, wie auch der Zugang zu Bildung. Sie werden zuerst in der Schule, dann im Beruf aussortiert, als erwerbsunfähig deklariert, zu Bittstellern gemacht und verwaltet.

Wo zu wenig Hilfe ist, entsteht Selbsthilfe, ehrenamtliche Arbeit wird erbracht. Unermüdlich versuchen neurodivergente Menschen, ihre besonderen Bedürfnisse denjenigen nahezubringen, die sie verwalten, therapieren, umerziehen, über ihr Schicksal und ihre Teilhabe am Leben entscheiden und ihre Selbstbestimmung dramatisch einschränken. Man könnte sie auch professionell in diese Prozesse eingliedern, von ihrem Wissen und ihren Fähigkeiten profitieren und ihnen damit einen vollwertigen Arbeitsplatz bieten, der sie unabhängig macht. Man tut es aber nicht.

Wir – als Generation – hinterlassen unseren Kindern Probleme, deren Lösung nicht einfach sein wird. Innovation ist gefragt, logisches und abstraktes Denken, detaillierte Wahrnehmung, Begabung, Wissen, Empathie, Gerechtigkeit und klare Ansagen.

Die Kinder und Enkelkinder der Menschen, die man heute ausgrenzt, werden morgen die Lösungen finden für die Probleme, die wir heute schaffen. Darüber sollte man mal nachdenken. Man tut es aber nicht.

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  • Erstellt von: SusanneG
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    12.11.2022 14:18:00 Uhr

    zuletzt bearbeitet: 12.11.2022 14:31
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