ADHS-Outing?

04.10.2016 19:55 (zuletzt bearbeitet: 05.10.2016 11:57)
avatar  Tomate ( gelöscht )
#1
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Tomate ( gelöscht )

Liebe Forum-Mitglieder,
seit einiger Zeit informiere ich mich hin und wieder bei euren interessanten Chats und habe mich nun entschlossen, selbst eine Frage zu stellen bzw. unsere Geschichte (ich versuche mich kurz zu halten)zu erzählen.

Mein Sohn, um den es hier geht, war bis zum Kindergarten recht unauffällig. Klar, er war jähzornig, aber das war seine 2 Jahre ältere Schwester auch, vielleicht nicht in dem Maße, aber "er ist ja halt ein Junge"...

Dort war er auch nie großartig mit anderen Kindern in Konflikte geraten spielte am liebsten draußen. Die Situation änderte sich schlagartig mit Schulbeginn. Von Anfang an hasst er die Schule.

Nach wenigen Monaten gab es erste Gespräche, er hielt sich nicht an die Regeln und störte den Unterricht. Die Leistungen waren - vor allem was die Rechtschreibung anbelangt - recht dürftig. Die Lehrerin war sichtlich genervt. In der 3. Klasse wandte ich mich dann recht hilflos an eine Kinderpsychiaterin, die ihn zunächst auf LRS untersuchen sollte. Sie war leider kein besonderer Sympathieträger, mein Sohn durchlief die standardisierten Testverfahren mit angestellten Psychologen und ich musste gefühlte 20 Fragebögen ausfüllen.

Ohne mit meinem Sohn gesprochen zu haben, diagnostizierte sie anschließend "kein LRS, aber wahrscheinlich ADHS". Was sollte ich mit der Diagnose "wahrscheinlich ADHS" anfangen? Ich war noch hilfloser als zuvor... Mein Sohn hatte sich inzwischen leistungsmäßig wieder einigermaßen berappelt und zu dieser Dame sind wir nie wieder hingegangen.

Inzwischen ist er in der 6. Klasse auf einem Gymnasium. Seit einem guten halben Jahr sind wir erneut in Behandlung, diesmal bei einem wesentlich empathischeren Kinderpsychiater, der nun ziemlich sicher ist, dass es sich bei ihm um ADHS handelt. Mein Sohn kann sich überhaupt nicht konzentrieren und ist aufgrund dessen mehr als gefrustet. Zu Hause lässt er den Frust dann raus. Momentan befinden wir uns auf der Abwärtsspirale, die Noten sind inzwischen katastrophal. Noch nimmt er keine Medikamente, da der Arzt auch erst einmal abwarten wollte, aber auch ankündigte, dass er die Gabe von MPh in Erwägung zieht.

Meine konkrete Frage nun an euch: Habt ihr die Schule über ADHS informiert? Ich bin sehr zögerlich, da ich vermute, dass seine Klassenlehrerin (60+ und "vom alten Schlag") keinerlei Verständnis haben wird und ihn vielleicht noch eher abserviert. Ich freue mich auf eure Antworten!


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04.10.2016 23:42
#2
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Hallo Tomate,

herzlich willkommen bei uns im Forum! Schön, dass du zu uns gefunden hast.

Na, da hat dein Sohn seit der Einschulung wohl so einiges mitgemacht. Es ist gut, dass Ihr jetzt bei einem vernünftigen KiJu-Psychiater in Behandlung seid.

Zitat von Tomate im Beitrag #1
Noch nimmt er keine Medikamente, da der Arzt auch erst einmal abwarten wollte, aber auch ankündigte, dass er die Gabe von MPh in Erwägung zieht.

Ob dein Sohn MPH-Medis bekommen sollte, hast du in den vorangegangenen drei Sätzen schon selbst beantwortet:
Zitat von Tomate im Beitrag #1
Mein Sohn kann sich überhaupt nicht konzentrieren und ist aufgrund dessen mehr als gefrustet. Zu Hause lässt er den Frust dann raus. Momentan befinden wir uns auf der Abwärtsspirale, ...

Dein Kind leidet. Und das ist so ziemlich der einzige Grund, weshalb man einem Kind Medikamente gibt.

Zitat von Tomate im Beitrag #1
Meine konkrete Frage nun an euch: Habt ihr die Schule über ADHS informiert? Ich bin sehr zögerlich, da ich vermute, dass seine Klassenlehrerin (60+ und "vom alten Schlag") keinerlei Verständnis haben wird und ihn vielleicht noch eher abserviert.

Ha, unser Lieblingsthema! Hier sind wir Foris absolut gar nicht einer Meinung - und das ist auch gut so. Ob und falls ja was du der Schule zum Thema ADHS erzählst, sollte davon abhängen, wie dein persönlicher Draht zur Lehrkraft ist. Wenn da die Chemie nicht stimmt, machst du mehr kaputt als gut. Stimmt die Chemie UND ist die Lehrkraft bereit und in der Lage, auf ein Kind mit ADHS einzugehen, kann dein Sohn von einem offenen Gespräch sehr profitieren.

Blöd halt, dass man vorher nicht weiß, wie die Lehrkraft zu diesem Thema steht ...

Zu 60+: Künftige Lehrkräfte lernen in ihrer Ausbildung nichts bis gar nichts über den Umgang mit Kindern mit ADHS. Es ist also nicht gesagt, dass jüngere Lehrkräfte besser auf ADHS-Kinder eingehen. Erfahrene - also ältere - Lehrkräfte bieten oft von selbst Unterrichtsbedingungen, die unsere Kinder brauchen, und sie fahren nicht auf jeden neuen pädagogischen Schnickschnack ab. Sie sind in der Regel einschätzbar für ihre Schüler und haben ein gutes Durchsetzungsvermögen. Lass dich nicht vom Alter der Lehrkraft beeinflussen - nur die Chemie ist hier wichtig.

Wenn du hier im Forum stöberst, findest du etliche Beiträge zu deiner Frage und vermutlich genauso viele Ansichten. Es gibt hier keine richtige oder falsche Antwort. Ich schreib jetzt mal, was ich an deiner Stelle machen würde.

Ich folge meinem Grundsatz und sage von mir aus nichts zum Thema ADHS, beantworte aber jede Frage so gut ich kann. Dabei vermeide ich die vier Buchstaben ADHS, denn darunter stellt sich jeder etwas anderes vor. Viel treffender und auch zielführender sind Aussagen wie:

- Ja, er hat eine Reizfilterschwäche, dabei ist er doch so reizoffen. Ein immer gleich bleibender Platz direkt vor dem Lehrerpult, möglichst allein am Tisch, könnte ihm schon vieles erleichtern.

- Mitunter geht ihm so vieles gleichzeitig durch den Kopf, dass er im Unterricht den Faden verliert. Es hilft, wenn man ihn ab und zu mit seinem Namen anspricht, dann ist er wieder "da".

- Bei allem, was er tut, ist er mit all seinen Gefühlen dabei. Manchmal erhalten die Gefühle die Oberhand, dann hat er Schwierigkeiten mit der Selbststeuerung seines Verhaltens. Dann braucht er dringend die Chance, seine Gefühle wieder zu sortieren. Stattdessen auf ihn einzureden treibt ihn nur stärker in seine Gefühlswelt.

- Er hat Schwierigkeiten mit den Exekutiven Funktionen - mit etwas anzufangen oder etwas zu unterlassen fällt ihm schwer. Hier hilft Motivation weiter.

undundund. Lupa hat erst kürzlich zusammengefasst, wie man ADHS so umschreiben kann, dass der Gesprächspartner versteht, wovon man spricht. Gib mal bei der Suche "exekutive Funktionen" ein, dann müsste einiges zum Thema angezeigt werden.

Viele Grüße
Susanne

Was wir brauchen sind ein paar Verrückte; denn seht nur, wohin uns die Normalen gebracht haben. (George Bernard Shaw)

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05.10.2016 08:10 (zuletzt bearbeitet: 05.10.2016 08:12)
avatar  Laura S
#3
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Hallo Tomate

die Entscheidung, ob man es den Lehrern sagt oder nicht, ist wirklich sehr individuell. Es soll ja wirklich engagierte Lehrer geben, die sich auch mit ADHS auskennen, und das hat auch nichts mit dem Alter zu tun, da gebe ich Susanne recht.

Die Lehrer meines Sohnes sind überwiegend noch nicht so alt. Würde sagen so Ende 30- Ende 40. Sie hatten keine Ahnung über ADHS. Und sie hatten auch keine große Lust, sich mit dem Thema mehr als nötig auseinander zu setzen. Wir hatten in der 1. Klasse soviel Gespräche, das reicht bis heute, und jetzt ist er in der 3.Klasse. Ich habe aus dieser Zeit viel gelernt, hauptsächlich, wie die Lehrer so ticken.

Alles was in die Wege geleitet wurde, wurde von mir in die Wege geleitet und die Lehrer wurden zu der Zeit regelmäßig informiert und regelmäßig gefragt, wie es so läuft. Das mache ich nicht mehr. Das kind wird durch das regelmäßige Nachfragen viel mehr beobachtet, als die anderen und bekommt automatisch das Stigma. Jetzt hat er es geschafft, wieder im Klassenverband zu verschmelzen und nicht mehr herausgepickt zu werden. Er steht nicht mehr im Fokus der Lehrer und das ist gut so. Ich gehe davon aus, dass ich mit Sicherheit informiert werde, wenn es sich mit ihm gravierend verändern sollte in der Schule.

Auf seine Entwicklung von Klasse 1 bis jetzt bin ich sehr stolz. Die Medikamentengeschichte bespreche ich nicht mehr mit den Lehrern. Sie wurden informiert, als wir damit begannen, da mussten sie einige Male Fragebögen ausfüllen. Ich verlasse mich jetzt am meisten auf meine eigenen Beobachtungen. Das habe ich hauptsächlich hier gelernt. (Danke Susanne... )

Ich würde mich an deiner Stelle langsam herantasten. Wenn du mit der Lehrerin sprichst, dann versuche ihre Sicht herauszubekommen, ohne ADHS direkt auszusprechen, dann kannst Du immer noch entscheiden. Manchmal kann es auch von Vorteil sein, wenn die Lehrer es wissen, wie gesagt, das muss man herausfinden.


Alles Gute
Laura


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05.10.2016 08:34
#4
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Herzlich Willkommen hier im Forum.

Tja wie schon die anderen beiden geschrieben haben, ob man es dem Lehrer sagt oder nicht, hängt von dem Verhältnis Kind-Lehrer-Eltern ab.

Grundsätzlich bin ich immer ein Verfechter von Aufrichtigkeit, damit bin ich persönlich bisher am Besten gefahren. Allerdings war der Lehrer meiner Tochter derjenige der den Stein ins Rollen brachte und das Thema ADHS auf den Tisch.

Ein weiterer Punkt, die Lehrer mit ins Boot zu holen ist der Antrag auf Nachteilsausgleich. Spätestens wenn man den in der Schule abgibt, kommt es eh ans Tageslicht. Oder auch schon vorher, wenn man mit den Fragebogen ankommt, der vom Lehrer ausgefüllt werden muss.

Das hat dir jetzt bestimmt auch nicht viel weitergeholfen, denn so wie Susanne schon geschrieben hat, jeder hat da seine eigene Meinung dazu.

Was man allerdings nicht machen muss ist, darüber zu sprechen ob und welche Medikamente das Kind nimmt und auch mit Klassenkameraden und deren Eltern muss man nicht unbedingt über das Thema ADHS reden.
Bei uns wissen es allerdings alle, denn meine Tochter hat sich vor der Klasse geoutet und dann finde ich das auch ok. Ermutigt habe ich sie dazu nicht, sie hat es von sich aus getan. Ob das nun gut und zu ihrem Vorteil war, kann ich noch nicht beurteilen, ich fand es jedenfalls sehr mutig.

LG Mona Lisa

Mutterglück ist das was eine Frau empfindet, wenn die Kinder abends im Bett sind.

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05.10.2016 11:51
avatar  lupa
#5
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Hallo Tomate,

auch von mir ein herzliches Willkommen im Forum!

Schließe mich allem bisher Gesagten an. Darüber sprechen oder auch nicht ... es kann für beides gute Gründe geben.

Ich persönlich halte es wie Mona Lisa:

Zitat von Mona Lisa im Beitrag #4
Grundsätzlich bin ich immer ein Verfechter von Aufrichtigkeit, damit bin ich persönlich bisher am Besten gefahren.

Auch ich habe bisher mit allen Lehrern meiner Kinder gesprochen (Kids jetzt in Klasse 5 und 7) und habe bisher eigentlich nur gute Erfahrungen damit gemacht. Beide Kinder haben in diesem Schuljahr neue Klassenlehrerinnnen bekommen - letzte Woche hatte ich mit beiden ein ausführliches Gespräch. Vorher habe ich meine Kinder übrigens dazu gefragt und beide hatten den Wunsch, dass die Lehrer Bescheid wissen sollen. Meine persönliche Haltung dazu ist: nur, wenn dem Lehrer die Problematik bekannt ist, kann ich erwarten, dass er schwierige Situationen verstehen und angemessen darauf reagieren kann. (Dass das natürlich trotzdem nicht immer klappt, und sehr von der individuellen "Eignung" der Lehrkraft abhängig ist, steht auf einem anderen Blatt ...)
Allerdings kämpfen wir, im Rahmen der zu Grunde liegenden ADHS - Problematik, auch eher mit den schulischen Leistungen als mit dem Arbeits - und Sozialverhalten. Vielleich macht das für einen Lehrer (leider!) doch einen Unterschied und stimmt sie etwas gnädiger im Umgang mit dem Thema (was letztlich aber nur beweist, dass sie es nicht verstanden haben).
Vielleicht ist die Bereitschaft der Lehrer, sich mit "besonderen Kindern" auseinanderzusetzten sogar auf den einzelnen Schularten unterschiedlich stark ausgeprägt. Während von Gymnasialkindern allgemein ein höheres Maß an Selbständigkeit und "Funktionieren" erwartete wird, haben die Kinder an der HS eigentlich alle mit irgendwelchen "Beigaben" zu kämpfen, auf die sich die Lehrer letztlich irgendwie einstellen müssen. Die Beschäftigung damit gehört für sie also vielleicht eher zum Tagesgeschäft, als für einen Gymnasiallehrer.
Zitat von Mona Lisa im Beitrag #4
Ein weiterer Punkt, die Lehrer mit ins Boot zu holen ist der Antrag auf Nachteilsausgleich. Spätestens wenn man den in der Schule abgibt, kommt es eh ans Tageslicht. Oder auch schon vorher, wenn man mit den Fragebogen ankommt, der vom Lehrer ausgefüllt werden muss. [...]
Was man allerdings nicht machen muss ist, darüber zu sprechen ob und welche Medikamente das Kind nimmt

Jein, ich ergänzemal: "... oder wenn das Kind Medikamente bekommt und eine Klassenfahrt ansteht" ... dann kommst Du letztlich nicht drum herum, ein offenes Wort mit dem Lehrer zu sprechen, da Du ihm die Medikamente aushändigen musst. Du schreibst, dein Sohn besucht die 6. Klasse Gymn. ... da wird die nächste Klassenfahrt nicht lange auf sich warten lassen ... aber NOCH bekommt er ja keine Medis ...
Zitat von Tomate im Beitrag #1
Noch nimmt er keine Medikamente, da der Arzt auch erst einmal abwarten wollte,

Und worauf will er da eigentlich noch warten???

Liebe Grüße
lupa

Earth is flat, pigs can fly and ADHD doesn't exist..

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05.10.2016 16:01
avatar  Tomate ( gelöscht )
#6
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Tomate ( gelöscht )

Erst einmal vielen herzlichen Dank für eure zahlreichen Tipps!! Es ist schon richtig, dass es kein Patentrezept mit dem Umgang mit ADHS gibt, umso mehr habe ich mich über eure Erfahrungsberichte gefreut.
Zunächst werde ich wohl in der Schule nichts sagen. Das Verhältnis zur Klassenlehrerin ist nicht ganz lupenrein. Mein Sohn ist halt schon auf der "Täterliste" bei Klassenklamauk bevor überhaupt eine Tat begangen wurde - so hat sie es mir auch offen gesagt. Er ist halt in der Vergangenheit schon zu oft negativ aufgefallen. Ich schätze sie so ein, dass sie die Wurzeln des Fehlverhaltens der Kinder eher bei dem Unvermögen der Eltern zu einer vernünftigen Erziehungsarbeit sieht. Wenn ich dann mit ADHS ankomme, sieht es nach Selbstverteidigung aus, was sich wiederum zu einem Machtkampf entwickeln kann, und darauf habe ich keine Lust.
Was mich schon zur nächsten Frage treibt: Ich habe immer noch sehr oft Schuldgefühle, bzw. grübele darüber, was wie besser laufen könnte und wie ich am besten worauf Einfluss nehmen könnte. Mir ist durchaus bewusst, dass solche Fragestellungen mehr zermürbend als zielführend sind. Daher meine - zugegebenermaßen etwas naive - Frage: Hört das irgendwann auf? Dieses ständige Grübeln und die permanente ungewollte Beschäftigung mit dem Thema empfinde ich als extrem belastend.
Wie ich mich wohl in der Schule auch zurückhalten werde, so ergeht es mir auch im Privatleben. Eigentlich weiß niemand so richtig Bescheid und man fühlt sich sehr allein. Daher bin ich sehr froh, auf diesem Wege eine Form des Austauschs gefunden zu haben!
@lupa: Bei uns beginnen in der kommenden Woche die Herbstferien. Jetzt mit der Medikamentengabe zu beginnen hielt der Arzt für keinen guten Zeitpunkt. Außerdem denke ich, dass Ärzte bei dem Thema MPH immer erst vorsichtig agieren, weil sie nicht wissen, wie die Eltern dazu stehen. Ich hatte ja nun jahrelang Zeit, mich zu informieren und mich mit dem Thema Medikamente auseinanderzusetzen und stehe inzwischen ganz klar auf dem Standpunkt, dass ich meinem Sohne die Chance´, es mit MPH auszuprobieren, nicht nehmen möchte.
Seid herzlich gegrüßt
Tomate


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05.10.2016 18:06 (zuletzt bearbeitet: 05.10.2016 18:10)
#7
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Hallo Tomate,

lass mich noch etwas "nachschieben" ...

Ich bin seit 20 Jahren im Thema ADHS und seit 16 Jahren in der ADHS-Selbsthilfe engagiert. Als meine Tochter auf die Realschule kam, bat mich (schon unmittelbar nach dem ersten Elternabend) die nette, sympathische, nicht mehr ganz so junge Englischlehrerin um ein Gespräch. "Bitte erklären Sie mir, weshalb ein Kind, das offenbar mit Freude im Unterricht mitmacht, beim ersten Vokabeltest mit läppischen zehn Vokabeln zehn Fehler macht." Ich warf einen Blick auf den Test und sagte: "Das ist Ansichtssache. Sie hat jedes Wort gewusst ... nous, ihrs, mauf, ais ... leider hat sie eine Lese-Rechtschreib-Schwäche." Sechs Jahre lang hat die Lehrerin nach jedem (jedem!) Test meine Tochter mündlich abgefragt. Und die mündliche Note zählt zu einem Drittel mit.

Diese Frau - heute 62 Jahre alt - ist eine super Lehrerin, die ihre Pappenheimer kennt und bei jedem dafür sorgt, dass auch das benotet wird, was dieses eine Kind besonders gut kann. Über die LRS kamen wir auch auf die ADHS zu sprechen und sie regte an, in der Schule die eine oder andere Informationsveranstaltung zu diesem Thema zu machen, denn "alle meinen, sie wissen, was das ist - aber keiner hier im Haus weiß das wirklich". Natürlich wussten dann alle Lehrkräfte und viele Eltern von der ADHS meiner Tochter, aber das hat damals niemanden groß gestört.

Wenn man in der ADHS-Selbsthilfe engagiert ist (und damit jeden medizinischen Laien unter den Tisch schwätzt), Referenten engagieren und auch selbst Vorträge halten kann und auch außer der Reihe für Lehrer und Eltern Ansprechpartner ist, kann man getrost die ADHS des eigenen Kindes outen - sofern dieses damit einverstanden ist.

Siehe oben, 16 Jahre Selbsthilfe ... was ich in diesen 16 Jahren auf Veranstaltungen, in Gesprächskreisen, im Verein und im Forum gehört und gelesen habe, signalisiert mir ganz deutlich, dass man nicht mit allen Lehrern und nicht an allen Schulen über ADHS sprechen sollte. Mitunter muss man recht sattelfest im Thema sein, damit man nicht plötzlich zum Spielball der Schule wird. Was mir dazu schon berichtet wurde, würde ein Buch füllen.

Laura hat es oben so schön auf den Punkt gebracht: Mit diesen ADHS-Lehrer-Diskussionen rückt das Kind in den Fokus und die Beurteilung der Lehrkraft ist nicht mehr objektiv. Das ist eben der Nachteil, wenn Diagnostiker darauf bestehen, die Schule mit ins Boot zu holen.

Wie lupa schreibt, gibt es da auch große Unterschiede bei den Schulformen. Grund- und Hauptschulen versuchen, die Kinder dort abzuholen, wo sie stehen. Offene Gespräche helfen da weiter. Dort (und an den Realschulen) spricht man mit Pädagogen; die meisten schaffen es, Spitzen zu kappen und Schluchten zu überwinden.

Anders sieht es auf den Gymnasien aus. Dort unterrichten Fachlehrer, die nicht zwingend ein Pädagogik-Studium durchlaufen haben. Mitunter unterrichtet der Klassenlehrer nur eines der Hauptfächer und ist nicht mal sechs Stunden pro Woche in der Klasse. Am Gymnasium kann man die Schüler nicht dort abholen, wo sie stehen. Im Gegenteil - dort "darf" eine Lehrkraft sagen: "Wenn ihr Kind nicht selbstständig genug fürs Gymnasium ist, sollte es eine andere Schulform besuchen".

Die Antwort auf deine Frage ist immer noch die gleiche: Es kommt ganz darauf an.

Bei einem Schüler der sechsten Klasse Gymnasium stellt sich mir die Frage, was man damit erreichen möchte, wenn man die Klassenlehrerin über die ADHS des Kindes informiert. Verpflichtet ist man dazu nämlich nicht. Doch wenn - siehe meine erste Antwort - das Gespräch auf das Thema "Verhalten" kommt, sollte man die ADHS durchaus erwähnen und dann - GANZ WICHTIG! - die Fragen der Lehrkraft beantworten. Antworten auf nicht gestellte Fragen erreichen den Gesprächspartner nicht.

In deinem Fall kommt noch hinzu, dass die Diagnostik ja noch gar nicht abgeschlossen ist. Bislang steht da noch "Verdacht auf ADHS" und es wurde eine medikamentöse Therapie "ins Auge gefasst". Warte erst mal den Abschluss der Diagnostik ab und beobachte selbst, ob und falls ja was sich unter der Medikation ändert.

In der Zwischenzeit kannst du viel tun, nämlich ein gutes Buch zum Thema ADHS lesen und dich über ADHS-Elterntraining informieren. Sorge dafür, dass du fundiertes Wissen über ADHS hast (Neurobiologie! Weshalb ist es so, wie es ist?). Wenn dann in der Schule das Thema drauf kommt (Klassenfahrt zum Beispiel), bist du fit für eine sachliche Diskussion.

Zitat von Tomate im Beitrag #6
Bei uns beginnen in der kommenden Woche die Herbstferien. Jetzt mit der Medikamentengabe zu beginnen hielt der Arzt für keinen guten Zeitpunkt.

Das sagt der Arzt. Andere Meinung: Erfahrene Mütter von Schulkindern mit Medikation! Die Ferien - egal welche - sind der beste (und meiner Ansicht nach auch der einzig richtige) Zeitpunkt, um mit der Medikation zu beginnen. Denn dann kannst du am besten beurteilen, wie das Medikament bei deinem Kind wirkt.

Dein Kind braucht kein Medikament für die Schule - dein Kind braucht ein Medikament für sich selbst, damit es ihm besser geht.


Viele Grüße
Susanne

Was wir brauchen sind ein paar Verrückte; denn seht nur, wohin uns die Normalen gebracht haben. (George Bernard Shaw)


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